Textauszüge aus dem Roman

»Als wir einmal fast erfolgreich waren«

Aus Kapitel 7 –DES KAISERS NEUE KLEIDER

»Ach, da seids ja!«, kam es im Würzburger Idiom überrascht von hinten. Ich drehte mich um und hatte einige Probleme mit meinem Augenlicht und meiner Standfestigkeit. Trude erstrahlte in einem krass-violetten Kleid mit großen bunten Blumen darauf. Darunter trug sie eine weiße Rüschenbluse und darüber, es war schließlich November, eine recht grobe rosa Strickjacke. Die hochhackigen Stiefelchen waren knallrot und offensichtlich dem Nikolaus gestohlen worden, oder besser gesagt: ein Schuh dem Nikolaus, der andere Knecht Ruprecht, denn so wie Trude darin wackelte, schienen die Absätze unterschiedlich hoch zu sein.

»Was dachtest du? Wir warten schon ne Ewigkeit auf euch«, versuchte ich mich wieder zu sammeln und bissige Bemerkungen über korrekte bürgerliche Kleidung, die verabredet gewesen war, zu vermeiden. Was hatte diese Frau für Vorstellungen von den Bekleidungsroutinen der Bourgeoisie und wo hatte sie die her, fragte ich mich.

»Jetzt werd mal nicht komisch, wir sind doch kaum über die Zeit«, meinte Trude und stolperte auf die Straße, als ob sie schon drei Gläser Kupferberg Gold intus hätte.

»Ein Hut, ein Hut wäre nicht schlecht gewesen«, meinte ich, wobei mir so ein dekoratives Vogelnest vorschwebte. Das kam bei Trude offensichtlich nicht an.

»Fritz kommt gleich mit der Anlage durch das Tor«, sagte sie und stellte auf einem Fenstersims ein in allen Farben des Regenbogens schillerndes, plastikperlenbesetztes Etwas ab, was offensichtlich eine Handtasche darstellen sollte. Ich wollte lieber gar nicht wissen, welchen Karnevalsprinzen Fritz abgab, wenn Trude den Sinn meines Anliegens schon so gründlich missverstanden hatte. Zwar war der 11.11. schon vorbei, aber um Fasching ging es hier wirklich nicht. Okay, Trude hatte sich sicherlich Mühe gegeben. Sie hatte sich geschminkt. Das war etwas, was Genossinnen gemeinhin nur selten und dann eher zurückhaltend betrieben. Leider sah man Trudes Gesichtsbemalung die mangelnde Routine auch an. Das matte Rosa ihres Lippenstifts erinnerte an Taschenkrebse, die, vor einer Umweltkatastrophe in ihrem Biotop fliehend, auf der angrenzenden Küstenstraße von einem vorbeifahrenden Militärkonvoi platt gefahren worden waren.

Da öffnete sich tatsächlich auch schon das Tor und hinter ein paar Kisten lief Fritz hinterher. Er war dann doch nicht allzu schrill kostümiert. Mit dem schönen Ausdruck Hochwasserhosen hatten wir zu Kinderzeiten zu kurz geratenes Beinkleid tituliert. Überhaupt schien Fritz nur mit einiger Mühe in seine heutige Ausgehuniform gekommen zu sein. Wurde Fritz fett? War mir bislang noch gar nicht aufgefallen.

Die ostanatolischen und Sozialhilfe-Nachbarn staunten nicht schlecht, als sie uns nun zusahen, wie wir seltsame Dinge mit ihren leidlich verkleideten Nachbarn einluden. Für mich sah es günstigstenfalls nach belgischen Waffenschiebern aus, für die ortsansässige Bevölkerung vermutlich nach neuen Teilnehmern im lokalen Drogengeschäft mit einem schlecht gehenden Nebenerwerbszweig in der Prostitution. Ich begann mich zu ärgern, weil das Ganze natürlich nicht wirklich meinen Vorstellungen entsprach. Gott sei Dank kamen die Leute hier auf viele dumme Ideen, aber die pigs anrufen? Nee, dazu hatten sie dann doch zu viel Ehre im Leib!

Dafür ging gleich das ganz große Genöle los:

»Was ist das denn für ein Scheiß-Auto!? Was Auffälligeres habt ihr wohl nicht bekommen? Wo habt ihr das überhaupt her? Doch nicht etwa geklaut?«, meckerte Fritz. Böse Blicke schossen durch die Luft.

»Jetzt wird es aber bürgerlich«, meinte ich, »geklaut? Für wie blöde haltet ihr uns, hä? Ich hab euch gestern gesagt, dass wir mit ner dicken Kiste kommen. Das ist Teil des Plans, schon vergessen?«

Unser hauseigener ADAC und wandelnde Autolobby in Form von Kraschno versachlichte die Auseinandersetzung aber ganz schnell wieder: »Der Witz an der Karre ist, dass sie im Gegensatz zu euren lächerlich lackierten Enten und Käfern, die ihr zudem noch mit irgendwelchen Blödmann-Aufklebern zuballert, am besten eure heiß geliebten Pril-Blumen mit ›Atomkraft, nein danke!‹ drauf, für Bullenaugen, die nen Schwarzsender suchen, quasi unsichtbar ist und darauf sollte es heute ankommen!«

Dass Kraschno die beiden Kreuzberger Superrevolutionäre nun zu blöden Ökos abgestempelt hatte, war natürlich genau der Tropfen Benzin ins Feuer geschüttet, der noch fehlte.

»Das muss nun gerade von Typen kommen, die gestern noch, nur mit der richtigen Linie bewaffnet, die Festungen des Imperialismus schleifen wollten«, konterte Fritz überheblich. Das spielte darauf an, dass der KBW, dem wir früher angehörten, im Gegensatz zu einigen seiner linken Mitbewerber nicht gerade als Spezialist des klandestinen Geschäfts galt. Er bevorzugte es zudem bei Aktionen, die eigentlich eine gute Vorbereitung und eine entsprechende Ausrüstung erfordert hätten, seine Mitglieder mit einer nur schwer nachvollziehbaren, nahezu sektenhaften Opfermentalität, sozusagen in Hut und Mantel, lediglich mit der richtigen politischen Einstellung bewaffnet, in die Schlacht gegen die Bürgerkriegstruppen des Staates zu schicken. Unser eigenes Unverständnis und unsere Kritik daran waren einer der Gründe, die uns beim KBW zu linken Abweichlern gemacht und unsere Karrieren in der Organisation, gleichsam natürlich als Linksopportunisten, beendet hatten.

»Und dass ihr die Rolle der Anti-AKW-Bewegung völlig falsch einschätzt, ist ja bekannt«, schob Fritz nach.

»Ich setz mich in so was nicht rein, nee, da fühl ich mich irgendwie nicht authentisch«, zierte sich nun Trude und wollte auch etwas zur Auseinandersetzung beitragen.

»Fritz, ich hab dir gleich gesagt, diese Ex-K-Gruppen-Typen sind alle krank! Und diese Kinder bürgerlichen Wohlstands sowieso!«, meckerte Trude weiter.

Diese, von anderen Linken gegenüber dem KBW, unter Verwendung der drei Anfangsbuchstaben der Abkürzung, gerne gebrauchte Schmähbezeichnung traf Kraschno nun tief in seiner Malocherehre, und er wurde leider gleich wieder persönlich: »Hör mal zu, Alte, ich habe in meinem Leben schon an mehr Werkbänken geackert und gefeilt, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Die einzige Feile, die du kennst ist doch deine Nagelfeile!«

Inzwischen hatte unsere Auseinandersetzung größere Aufmerksamkeit gefunden. Zu den ersten türkischen Jungs, die eigentlich nur die Kiste begaffen wollten, hatten sich etliche weitere gesellt, die unserer Unterhaltung nun gebannt zuhörten. Etwas weiter zurück standen einige ihrer mit Kopftuch bewehrten Mütter, die das Ganze wohl auch für eine willkommene Abwechslung ihres Alltags hielten. Hoffentlich verstehen die wirklich so wenig Deutsch, wie von manchen immer behauptet wird, dachte ich.

»Wenn die nicht mitfahren wollen, dürfen wir dann mit?«, fragte einer der Jungen, indem er mit seinen dreckschwarzen Flossen an meinem Jackett zupfte und meinem perfekt gebügelten weißen Oberhemd bedrohlich nahe kam.

»Ist das dein Auto?«, traute sich nun ein anderer.

»Ja!«

»Echt?«

»Ja!«

»Was kostet denn der?«

»Geld!«

»Tausend Mark?«

»Mehr!«

»Tausendmillionen?«

»Hör zu, wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, steck ich dich in den katholischen Kinderknast, kapiert?«

»Mark, lass doch den Jungen in Ruhe, was soll das denn jetzt, so ne Scheiße zu labern?«, giftete Trude mich an.

Kraschno schlug mit der flachen Hand wuchtig auf das Wagendach und brüllte so laut: »Jetzt reichts«, dass alle, inklusive der orientalischen Beobachter, ordentlich erschraken, »wir können auch wieder fahren!«

Stille.

»Jetzt gehts eh nischt andersch, wir wolln in gut zwei Stunde uff Sendung sein«, lenkte Fritz jetzt ein und verfiel dabei in seinen schwäbischen Heimatdialekt. Tausendmillionen-Ahmed und seine Kumpels hielten jetzt etwas mehr Abstand, und tatsächlich stieg Fritz nun in den Wagen ein. Madame Authentizität-geht-über-alles tat es ihm, oh Wunder, gleich. Ich war mit den Nerven am Ende. Unprofessioneller konnte die Sache nun wirklich nicht beginnen, und dass Kraschno die inzwischen gut 20 Türkenjungs mit lautem Hupen auseinandertrieb, damit wir abfahren konnten, gab mir gleich den nächsten Schlag.

»Leute, das war ja wohl der absolute Katastrophenauftritt!«, sagte ich, »und auch noch Namen nennen, au Mann!«

»Namen? Wieso Namen? Ich habe keine Namen genannt!«, kreischte Trude. Fritz wollte ihr beruhigend einen Arm umlegen, sie schlug ihn weg und schwieg dann. Offensichtlich dämmerte nun auch unseren Radiopiraten, dass das eben ein Beispiel aus dem Kapitel Wie-mache-ich-es-nicht war.

»Okay«, sagte ich nach einer kurzen Pause, »lasst uns versuchen, jetzt nach Plan zu operieren. Wenn jeder, wie besprochen, seinen Job macht, wird noch was draus.«

»Meine Handtasche, Scheiße, meine Handtasche!«, kam es von hinten. »Sie steht noch vorm Haus in der Adalbert«, jaulte Trude.

»Na super, das ist ja richtig geil!«, sagte ich, »was ist denn so alles drin? Personalausweis, Sendekonzept und unsere Adressen will ich hoffen!«

Trude schwieg. Kraschno hatte derweil den Wagen zu meinem Leidwesen aus voller Fahrt mit dramatisch quietschenden Reifen gewendet und fuhr zurück zum Ausgangspunkt.

 

In der Adalbertstraße angekommen, sah ich schon von weitem meinen jungen Gesprächspartner umzingelt von der Horde seiner Kumpels. Auch Kraschno hatte sie erblickt und hielt unmittelbar neben ihnen an. Ich riss die Wagentür auf und sprang auf die Straße. Tausendmillionen-Ahmed hielt in der linken Hand Trudes Funkelteil, in der rechten einige Blatt Papier, aus denen er gerade seinen Freunden vorlas.

»Antiperialistischer Kampf, das ist alles, was die Runierung der wirtschaftliche, poltische und kultrellen Metroplen vorantreibt …«

»Gut vorgelesen, Ahmed, aber nun hole ich die Handtasche und alle anderen Sachen ab, die wir aus Versehen stehen gelassen haben«, sagte ich betont freundlich.

»Äh, ich hab nichts geklaut, ärlisch!«, kam es blitzschnell von ihm, »und ich bin Bilal, nicht Ahmed! Das ist Ahmed!«, sagte er und zeigte auf seinen Kollegen mit den schwarzen Händen. Der echte Ahmed hatte sich schon wieder eine Ecke meines Jacketts geschnappt und zog daran:

»Du, Onkel, was ist antiperalistisch?«

»Und Runierung?«, fragte ein anderer Zwerg neben ihm.

»Ganz schlimme Krankheiten, Jungs!«, antwortete ich in der Hoffnung auf abschreckende Wirkung.

»Wie schlimm?«, ließ sich Dreckflosse nicht beeindrucken.

»Na, dir fällt der Pillermann ab, wenn du Runierung hast, mindestens!«, sagte ich bestimmt. Das gab ihnen schwer zu denken und mir die Gelegenheit, die Sache schnell zu beenden.

»Also, Jungs, was habt ihr aus der Handtasche genommen?«

Die Papiere und das Schillerding hatte ich Kollege Bilal inzwischen abgenommen. »Nix, ärlisch!«, kam es unisono aus der Runde.

»Schwört ihr bei Allah?«

»Ärlisch, ärlisch, ich schwöre!«, kam es von allen Seiten. Ich tat die Papiere zurück und warf Trude, die inzwischen das Seitenfenster des Daimlers heruntergekurbelt hatte, die Handtasche zu.

»Fehlt was?« Trude kontrollierte schnell den Inhalt und schüttelte mit dem Kopf. »Schön, mein kleiner Dyslexiker, dass du nicht gelogen hast!«, sagte ich und strich Bilal über das Haar.

»Was ist ein …?«, wollte der echte Ahmed gerade fragen, aber ich kam ihm zuvor. »Wenn du das Wort aussprichst, dann passiert das mit dem Pillermann! Ich schwörs dir, bei Allah!«, sagte ich, stieg rasch in den Wagen und Kraschno gab Gas.

 

Aus Kapitel 8 – GUTE-NACHT-MUSIK FÜR TRUDE UND EINEN KNEIPENTRESEN

»Okay«, sagte ich, »jetzt wird gezockt!« Oder hatte ich das nicht bereits gesagt?

Kraschno verdrehte die Augen und Trude schrie, als ich die Wagentür öffnete: »Zocken? Zocken! Was soll das heißen: Zocken? Seid ihr irre?«

Ich stieg demonstrativ langsam aus der Bonzenschüssel und steckte mir die 24ste Zigarette des Tages an. Krawatte festgezogen, Jackett gestrafft und auf die Mausefalle zugegangen.

»Guten Abend«, sagte ich zum ersten Bullen an der Kontrolle, »ich fürchte, wir haben ein echtes Problem. Wir haben uns irgendwie verfahren. Waren bei der Morgenpost in der Kochstraße zu einem Gespräch in der Wirtschaftsredaktion und müssen jetzt zurück zum Kempinski. Ich glaube, wir brauchen Ihre Hilfe.«

Der Bulle funktionierte systemgemäß. »Momentchen, muss mal Kontakt mit den Kollegen aufnehmen«, sagte er und verschwand in einer Wanne.

Nach ein paar Minuten, die mir wie die erste Anzahlung auf das Ewige Fegefeuer, das mir im Kommunionsunterricht versprochen worden war, vorkamen, öffnete sich die Tür der Wanne wieder und er kam zurück und winkte einen grün-weißen VW Bus heran.

»Die Kollegen werden vorfahren, sie müssen einfach nur folgen.«

»Ach, das ist ja super nett von Ihnen! Herzlichen Dank, wirklich große Klasse!« Dann ging ich zurück zum Wagen.

Trude sah aus, als ob sie gleich heulen wollte, Fritz wie vom Zauberberg geholt. Kraschno schob die rechte Augenbraue hoch. »Und jetzt?«

»Und jetzt? Jetzt fahren wir noch auf ein Glas Schampus ins Kempinski. Brauchst nur dem Bullen-Bulli hinterherfahren.«

»Na, logo, machen wir ja immer um diese Zeit«, meinte Kraschno, bog aus der Fahrzeugschlange aus und fuhr unseren Freunden und Helfern nach Charlottenburg hinterher.

»Ihr seid völlig bescheuerte Idioten«, quetschte Trude hervor.

»Wieso? Ist doch alles gut!«, meinte ich und schaute aus dem Seitenfenster auf den Novemberregen.

Ob das mit ihr was werden könnte? Ich dachte an das neue Ziel meiner unerfüllten Leidenschaften. Schön wäre es schon, nicht mehr alleine zu sein (als ob ich jemals alleine war). Szenen kleinbürgerlicher Idylle schoben sich fetzenweise über die dunklen grauen Straßen Westberlins. Ich lullte weg. Kraschno schnallte das sofort.

»Hey, mein Guter, mach dich mal wach! Noch sind wir nicht durch. Diese schräge Scheiße musst du noch zu nem glücklichen Ende bringen, dann kannste wieder vom Händchenhalten träumen«, bemerkte Kraschno.

»Zu einem glücklichen Ende? Ja, das wäre schön«, sagte ich mit verschleiertem Blick.

»Was geht denn bei euch ab?«, stieß Fritz hervor, »habt ihr komplett den Verstand verloren? Wir fahren den Bullen mit unserer ganzen Technik hinterher, um in diesem Kapitalisten-Schuppen zu landen und ihr labert nur irre Scheiße! Das geht doch niemals gut.«

»Das geht sogar sehr gut, wenn ihr cool bleibt«, sagte ich, schob mir noch eine Beruhigungszigarette in den Mund und drehte die Anlage noch einmal voll auf, damit ich die Firma Das geht doch niemals gut nicht mehr hören musste.

Nicht viel später bogen wir vom Kurfürstendamm in die Uhlandstraße. Dann ging es kurz über die Kantstraße, und in der Fasanenstraße fuhr Kraschno dann direkt vor den hell erleuchteten Hoteleingang, vor dem auch die Bullen stehen geblieben waren. Ich ging zur Beifahrertür des VW Bullis.

»Noch einmal herzlichen Dank! Ohne Ihre Hilfe hätten wir das nie geschafft«, bedankte ich mich durch das offene Seitenfenster bei dem Beamten.

»Keene Ursache, Meester«, meinte dieser. Na, wollen wir ihm diese Vertraulichkeit mal nachsehen, dachte ich. Kraschno hatte zum Entsetzen von Trude und Fritz dem Portier den Autoschlüssel gegeben und die beiden zum Aussteigen aufgefordert. Sie sahen extrem unglücklich aus, wie sie zögernd auf die Hotelhalle zugingen. Trude stakste mit ihren hochhackigen Stiefeletten wie ein Storch auf der grünen Wiese und Fritz machte in seinem blauen Konfirmationsanzug, Modell Schischkoff Bulgarien 1965, auch kein optimales Bild. Sie wirkten wie Vertreter der niedersächsischen Landjugend beim Besuch der Grünen Woche. Naja, geht schon, dachte ich.

Kraschno ging voraus und hatte gleich das Hinweisschild zur Hotelbar entdeckt. Ich trottete als Letzter hinterher. Wir stellten uns an den Tresen. In der Nähe zum Eingang saß eine Schmalzlocke und klimperte gräulich auf einem Flügel herum. Der Barkeeper guckte schon ein wenig irritiert, als er uns sah. Wir waren vor allem ein bisschen sehr jung, um uns hier selbstverständlich bewegen zu können.

»Eine Flasche Moët & Chandon mit vier Gläsern, bitte«, bestellte Kraschno. Ich sah Kraschno fragend an:

»Moët & Chandon, Kraschno? Das Zeug schmeckt doch wie drei Tage alte Fanta, die auf einem gut geheizten Kachelofen vergessen wurde.«

In Punkto Champagner gingen unsere Geschmäcker doch stark auseinander. Ideologische Differenzen auf niedrigem Niveau.

»Naja, du trinkst ja auch Bananenmilch, Kraschno«, setzte ich hinzu.

Kraschno rollte mit den Augen: »Schnacker, elender Schnacker«, meinte er nur.

»Wären Sie so freundlich uns auch eine Flasche Veuve Clicquot zu bringen«, sagte ich zum Barkeeper, der sich ein wenig unwillig in das obligate Schicksal einer subalternen Servicekraft fügte, alldieweil das Kreuzberger Folklore-Duo mit Schnappatmung kämpfte. Schmalzlocke begehrte abermals Aufmerksamkeit, strich sich seine Schuppen vom schwarzen Samtanzug und zupfte die dazu passende Samtfliege zurecht. Großes schien bevor zu stehen. Er machte nun auf The Voice und quälte mit seiner Interpretation von Strangers in the Night.

An den im Raum verteilten niedrigen Tischchen saßen einige weitere Gäste in kleineren Gruppen, die uns mehrheitlich kritisch beäugten oder auch offen anstarrten. Das trug bei Trude und Fritz nicht gerade zur Herabsetzung des Pulsschlages bei. Kraschno und ich hatten das probate Gegenmittel oft genug praktiziert und schauten intensiv zurück. Jetzt nur nicht wegschauen, sondern stahlhart zurückglotzen, das ist unangenehm und hält auf Dauer keiner aus. So war es auch in diesem Fall und das Gesockse, welches sich zu diesem Zeitpunkt hier aufhielt, es war die übliche Westberliner Provinz-Mischung aus Angehörigen der hiesigen Kleptokratie, Nassauern der Berlin-Subventionen, Baulöwen, Spekulanten, Bordellbesitzern sowie Firmenvertretern aus Westdeutschland auf spesenintensiver Geschäftsreise, gab Ruhe und kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten. Es ging nun auf Mitternacht zu, als wir vor schön gefüllten, golden schimmernden Champagnerkelchen standen.

»Also, Ihre Sendeprobe hat uns ausnehmend gut gefallen, ich denke, wir können ins Geschäft kommen«, sagte ich zu Trude und Fritz und prostete ihnen zu. Trude hatte einen Blick, der Kastrationswünsche vermuten ließ, Fritz sah aus, als ob er nur noch sterben wollte. Der Champagner, jedenfalls der Veuve Clicquot, hatte die optimale Temperatur, ging gleich ins Blut und tat einfach nur gut. Trude und Fritz verzogen das Gesicht, als ob wir ihnen Zitronensprudel mit Persico vorgesetzt hätten. Dem Barmenschen entging das nicht.

Wir pafften und süffelten noch ein bisschen vor uns hin und ich versuchte immer wieder erfolglos, so etwas wie Small Talk in Gang zu bringen, aber es war und blieb ein zäher Brei. Trude und Fritz würden in diesem Leben nicht mehr locker werden und der Chef der Bar, der uns routiniert mit Salzstangen und Nüssen verwöhnte, war von den Schwarzer-Krauser-Tabakkrümeln, die die Kreuzberger beim Zigarettendrehen auf seinem auf Hochglanz polierten Tresen hinterließen, sichtlich genervt. Kraschno befreite seinen Platz am Tresen mit dem kleinen Finger der linken Hand von dem Gemisch aus Tabak- und Salzstangenkrümeln, ließ zwei Hundert-Mark-Scheine liegen und bat um die Vorfahrt unseres Wagens.

»Der Rest ist für dich, Süßer«, sagte Kraschno.

Der Barkeeper quälte sein genervtes Gesicht zu einer Grimasse, die Lächeln darstellen sollte. Er würde im Gastrogewerbe verbleiben müssen, für eine Schauspielerkarriere würde es nicht reichen.

Als Trude und Fritz im Fond des Daimlers saßen, nahmen sie wieder menschliche Gestalt an, schauten gleich nach ihrer Ausrüstung und fanden diese natürlich unversehrt und vollständig vor.

»Ist alles da«, legte Trude gleich los, »aber die Nummer war der totale Wahnsinn! Was hast du den Bullen denn erzählt, hä? Und ich im Kempi, geht doch gar nicht!«, platze alles aus Trude heraus, was sie die letzte Stunde hatte herunterschlucken müssen.

»Und dann geht ihr da auch noch rein und bestellt Champagner, das geht schon noch einmal nicht!«, wetterte Trude weiter.

»Schön, dass es dir aufgefallen ist!«, sagte ich.

»Komm mir nicht blöd, Mark! Nee, ehrlich, das haut mich um! Und ihr wollt Kommunisten sein?«, ging es weiter.

»Sind Kommunisten«, warf Kraschno ein.

Die ganze Anspannung wich nun von Trude und sie war nicht mehr zu stoppen. »Das ist der Hammer! Nee, wirklich, das gibts doch nicht! So schnell haut mich nichts um, aber das haut mich um!«

Kraschno und ich schauten uns an, grinsten und sangen in bester Laune die deutsche Daliah-Lavi-Interpretation von I Get a Kick out of You an, wobei wir genau wie im Original darauf achteten Rum mit einem schwach angedeuteten Rzu singen.

Diese geträllerte Hommage an Trude war ein schönes Gute-Nacht-Lied, bei dem Kraschno die rechte Hand vom Lenkrad nahm, sich bei mir unterhakte, sodass wir schunkelnd durch die nächtliche Mauerstadt gondelten. Dieses schien allseits zu beruhigen. Wir verabredeten einen Termin für den späten Nachmittag des nächsten Tages zum Rücktransport der Technik und setzten Trude und Fritz, der sich in kontemplatives Schweigen gehüllt hatte, an einem Taxistand ab. Als echte Kreuzberger hatten sie keine Kohle dabei und wir durften ihnen noch ein Pfund vermachen.

»Nichts für ungut«, verabschiedete sich Trude, »aber ihr seid keine Genossen, ihr seid einfach nur irre.«

»Vielleicht sind wir irre, weil wir Genossen sind«, konterte Kraschno. Trude verdrehte die Augen und wollte gerade im Taxi verschwinden, da fiel mir noch was ein: »Äh Trude, ich hab da noch ne Frage: Was ist denn nun eigentlich antiperialistischer Kampf?«

»Arschloch!«, war die Antwort. Kraschno hupte zum Abschied und fuhr weiter in Richtung Schöneberg.

Aus Kapitel 28 – DR. KLETTE, LIEBESÄPFEL UND ANDERE NATURKATASTROPHEN

Penelope begrüßte mich freudig mit einem leidenschaftlichen Kuss und führte mich in die WG-Küche, in der ein zum Teil in Betrieb genommener Adventskranz sogleich meinen Unwillen auf sich zog.

»Wozu braucht ihr sowas denn?«, entfuhr es mir säuerlich, auf das rot-bekerzte Rundgebilde deutend. »Könnt ihr nicht im Kopf bis vier zählen und habt Angst, Weihnachten zu verpassen?«

»Was ist denn mit dir los? Hat dich ein Floh gebissen? Wie kann man nur so kleinlich sein? Schau doch mal, Zora hat die ursprünglichen roten Schleifen gegen lila Schleifen ausgetauscht. So ist es jetzt ein richtiger Frauen-Adventskranz geworden.«

Sie setzte mir ein Heißgetränk vor die Nase, das süßlich nach orientalischem Parfüm und Seife roch und von mir vorsichtshalber nicht angerührt wurde.

»Und lila Kerzen gabs keine?«, nörgelte ich noch ein bisschen weiter, während Filou auf der Bühne erschien, auf den Tisch sprang und mit seiner rechten Vorderpfote ein gewisses Interesse an den lila Schleifen bekundete. Er schien von dem feministischen Gesamtkunstwerk auch nicht völlig überzeugt zu sein. Penelope ignorierte meine Bemerkung und setzte den Kater auf meinem Schoß ab. Sodann eröffnete sie die Debatte darüber, welchen Weihnachtsmarkt wir denn nun besuchen sollten. Das hatte für mich in etwa die Relevanz wie die Frage, ob ich lieber von einem Linienbus oder einem Reisebus überrollt werden wollte. Penelope konnte zu meiner Verblüffung viele unterschiedliche Weihnachtsmärkte in der Frontstadt aufzählen und ihnen eine erstaunliche Menge differenzierter Attribute und atmosphärischer Eigenschaften zuordnen. Einen alternativen oder gar feministischen Weihnachtsmarkt gab es offenbar noch nicht, sonst wäre dieser sicherlich favorisiert worden. Unterdessen hatte es sich Dr. Klette auf meinem Schoß bequem gemacht und schnurrte. Ich wollte ihn nicht unter meiner mäßigen Laune leiden lassen und verwöhnte ihn mit Streicheleinheiten, was offenbar auf sein Wohlwollen stieß. Penelope werkelte in einer Ecke der Küche noch auf einem Backblech herum, in dem sie auf dessen Oberfläche nach Vanille riechenden Teig in die Form gleichsam zu dicker wie zu kurz geratener Regenwürmer rollte und mit ihnen anschließend einen fast geschlossenen Kreis bildete.

»Ich muss die Kipferln noch fertig machen und in den Ofen schieben. Zora nimmt sie dann später raus. Sie hat übrigens noch eine Frage an dich wegen dieser Dampfer-Bott. Irgendwas in der Stabi hat wohl nicht so richtig geklappt.«

»Ja, ja, da klappt so einiges nicht.« Diese Dampfer-Bott beginnt mich auf unangenehme Art zu verfolgen, dachte ich. Dr. Klette drehte seinen Kopf und sah mich unverwandt an. Vor Schreck hatte ich wohl vergessen, ihm die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.

»Penelope, ich hab nach unserem Weihnachtsmarktbummel noch ein paar Dinge zu erledigen, wollte ich dir nur sagen«, beugte ich übermäßiger Erwartungshaltung hinsichtlich meiner Verfügbarkeit vor.

»Ach, das ist aber doof, ich dachte wir hätten auch den Abend für uns?«

»Es wird nicht ewig dauern. Ein Schlummertrunk im Jonas sollte allemal drin sein.«

»Ach, schön. Zora und Ute wollten auch noch ins Jonas. Das könnte nett werden.«

Das bezweifelte ich zwar stark, aber warum sollte ich mich darüber jetzt schon grämen? Penelope nahm ihren Vortrag über Weihnachtsmärkte in Westberlin wieder auf und ich kümmerte mich um Dr. Klette.

»Lass uns zu dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gehen, Mark. Der ist zwar nicht sooo schön wie einige andere, aber es ist schon spät und zu den anderen müssen wir zu lange fahren«, schloss Penelope den Weihnachtsmarkt-Auswahl-Monolog ab.

Vor dem Aufbruch ging ich noch in das WG-Badezimmer. Ich befolgte die hier geltenden besonderen Regeln und setzte mich auf die Klobrille. Da fiel mir ein Umstand ins Auge, der mein Missfallen erregte. Die Toilettenpapierrolle war falsch herum aufgehängt. Man konnte das gewünschte Stückchen Papier nicht von einem oben abrollenden, wandabgewandten Rollenende abziehen, sondern musste es von unten wandzugewandt abreißen. Das war nicht nur ergonomischer Unsinn und Zeitverschwendung, sondern auch unter historischen Aspekten eine nicht korrekte Installation einer Klopapierrolle. Auch wenn es in diesem Fall unklar blieb, ob die Rolle von der Anhängerin einer falschen Auffassung absichtlich so aufgehängt worden war oder, was ich schlimmer gefunden hätte, von einer Person, die zu dieser Angelegenheit keine Meinung hatte und der es womöglich schnurzpiepe war, wie eine Toilettenpapierrolle hing, korrigierte ich den Missstand augenblicklich und hängte die Rolle um. Neben der Befriedigung, die sich nach einer Blasenentleerung einstellt, hatte ich auch das Gefühl, die Welt wieder ein Stückchen besser gemacht zu haben.